Ego-Action: Wann aus Selbstverwirklichung Egoismus wird

Es ist nicht nur ein Phänomen der Generation Y, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Generation Z und in früheren Generationen, wird der ein oder andere sich die Frage schon einmal gestellt haben. Wie viel Selbstverwirklichung ist eigentlich nicht egoistisch? Ab wann benutzen wir diesen Begriff, um unser in Wirklichkeit recht egoistisches Verhalten zu tarnen? Wo verläuft die (Verhaltens-)Grenze zwischen Sturheit und Selbstverwirklichung?

Egal ob in Beziehungen, Berufsfeldern oder Behausungen: wir wechseln unsere Partner*innen, kündigen lästige Jobs und wagen neue Karrieren und ziehen, der eine öfters die andere seltener, von Stadt zu Stadt oder suchen uns innerhalb der Stadtgrenze ein neues heimisches Domizil.

Der Mensch braucht Veränderung, ebenso Routinen. Aber der Alltag lässt sich nun mal besser aushalten, wenn man ab und an das Land verlässt und fremde Orte bereist oder die heimischen vier Mietswände gegen eine Doppelhaushälfte oder Eigentumswohnung außerhalb der Stadt eintauscht. Wie auch immer.

Beziehungen halten meist so lange, wie sie unseren Lebensumständen entsprechen. Oft fällt es uns schwer, gewisse Krisen gemeinsam zu meistern, oder lästige Verhaltensweisen als auch regelmäßige Kompromisse in der Partnerschaft zu ertragen. Daher trennen wir uns vielleicht manchmal schneller, als es eigentlich richtig gewesen wäre.

Vielleicht hätten wir doch ein wenig mehr kämpfen, ein wenig mehr nachgeben, sollen. Aber in dem Moment ist das Offensichtliche für uns oftmals unbegreiflich, denn wer gibt schon gerne nach? Wer kriegt am Ende nicht gerne seinen Willen?

Natürlich sind Kompromisse auch etwas Schönes und gleichzeitig Wunderbares. Schließlich können beiden Parteien etwas daraus lernen und eine Beziehung besteht schließlich aus zwei Dingen: Geben und Nehmen. Eine Dynamik, die einseitig ausgeführt, immer in Disharmonie und konstanter Anspannung endet. Natürlich haben beide Partner*innen Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt, dennoch gibt die eine schneller nach als der andere.

Ein Gleichgewicht ist nicht immer gegeben.

Ein persönliches Beispiel: Ich werde oft gefragt, ob meine Art zu l(i)eben, nicht auch viele Opfer mit sich bringt. Immerhin sei „offen zu leben“ weder Mainstream noch allgemein gesellschaftlich akzeptiert. Der (sichtbare) Kreis an Befürworter*innen wächst und immer mehr Communitys als auch Plattformen ebnen den Weg für eine (Parallel-)Gesellschaft, in der poly sein und der eigenen Beziehungsanarchie frönen zur Normalität gehören. Natürlich ist es noch ein längerer Weg bis dorthin. Das bemerke auch ich immer wieder in meinem Alltag, in meinem Beziehungsalltag.

Wieso sollte ich ein Geheimnis daraus machen: Nicht wenige (schöne) Affären sind daran gescheitert, dass ich mich nach einer gewissen Zeit nicht darauf einließ, monogam zu leben und fortan sexuelle Exklusivität zu genießen. Für mich gab es dafür in den wenigsten Fällen einen ersichtlichen Grund und ich fand es wichtig, meine Grenzen (gleich zu Beginn) kundzutun. Der eine akzeptierte es, die andere lehnte es ab. Jeder/m das seine/ihre. So viel ist klar. Schließlich beharre ich ja auch auf meiner (Beziehungs-)Vorstellung und gestehe es dementsprechend auch meiner Affäre zu.

Auffällig ist hierbei, dass ich am Ende meistens das gleiche Gespräch führen musste, die gleichen Rechtfertigungen runterleiern (sorry!) sollte: „Ich bin nicht verwirrt, ich spreche mich wirklich für alternative Beziehungskonzepte aus.“; „Ich habe keine Angst zu lieben – im Gegenteil, ich möchte viel(e) Mensch(en) lieben.“; „Ich bin nicht sexsüchtig und nein, ich brauche auch nicht besonders viel Bestätigung. Ich bin eigentlich recht zufrieden mit mir.“

Vieles davon klingt wie indirekte Angriffe, aber eigentlich sind es verletzte Gefühle und Trauer, die als Angriff getarnt, weniger verzweifelt wirken sollen. Das ist okay. Es ist scheiße, nicht das zu bekommen, was man sich vorgestellt hat. Vor allem, wenn es um die Liebe geht.

Ein weiteres Argument ist immer wieder, dass es lediglich die eigene Egozentrik sei, die gepaart mit Sturheit und Rücksichtslosigkeit am Ende ins selbstgemachte Unglück führen wird: einsam sterben. Es ist schon wahr, denn im Laufe der Jahre wächst mit jeder beendeten Beziehung auch ein klein wenig die Angst, dass man vielleicht eine (die eine?) Chance verpasst hat. Gleichzeitig tritt aber auch nach jeder erneuten Trennung ein weniger ohnmächtiges Gefühl ein, zumal man sich bewusst sein kann, dass es auch dieses Mal ein nächstes Mal geben wird.

Die eigene Erfahrung ist der beste Lehrmeister. Aber natürlich ist es auffällig, wenn die eigenen Beziehungen immer wieder am gleichen Punkt oder aus einem gewissen Grund scheitern: wenn das eigene Ego im Vordergrund steht.

Wenn ich nicht gerne monogam lebe, kann ich mir eine/n gleichgesinnte/n Partner/in suchen. Wenn ich nicht gern an einem Ort verweile, sollte ich vielleicht schauen, dass auch mein/e Liebste/r reiselustig ist. Auf die großen Fragen den eigenen Lebensentwurf betreffend, sollten beide im besten Fall die gleiche Antwort haben. Alltagskleinigkeiten oder vielleicht sogar -schwierigkeiten lassen sich in der Regel mit Kompromissen lösen, dafür ist lediglich ein guter Wille auf beiden Seiten Voraussetzung… und der sollte in einer Beziehung ja wohl mindestens gegeben sein.

Auch Zugeständnisse sind eine schöne Form der Wertschätzung und in den seltensten Fällen reißt sich einer der beiden Liebenden dafür ein Bein aus. Es erfordert in einigen Fällen jedoch eine große Portion emotionaler Entbehrungen und Reflexion – das auf jeden Fall.

Die Frage ist nur: Ab wann schlägt Selbstverwirklichung in Egoismus um? Wenn einer der Partner*innen leidet? Wenn Grenzen immer wieder neu gesetzt und Bedingungen, je nach Gefühlslage, neu eruiert werden? Wenn scheinbar alles, bis auf die Beziehung, ständig Priorität hat? Wenn keine Zugeständnisse gemacht, dafür aber Bedingungen gestellt werden?

Ein (unschönes) Beispiel: Trennungen, die mit Sätzen eingeleitet werden wie „Ich liebe dich, aber ich liebe mich mehr.“ Klar, sollte definitiv immer der Fall sein, aber wieso kommt diese Feststellung erst nach geraumer Zeit? War die rosa-rote Brille schuld, die dem Liebenden die Sicht vernebelt und des Einschätzungsvermögens beraubt hat? Das klingt in meinem Ohren eher wie: „Ich habe echt keine Lust mehr, weiterhin Kompromisse einzugehen bzw. für zwei zu denken.“ Alleinsein, frei sein. Völlig legitim, aber trotzdem verletzend für den/die Empfänger/in.

Gerade ständig wechselnde (Beziehungs-)Vorstellungen und schier unerfüllbare Bedingungen sind zumeist eher ein Zeichen der eigenen Verwirrtheit und am Ende pures Ausnutzen der emotionalen Kapazitäten des geliebten Menschen. Es ist einfach nur zehrend, sich immer wieder anhören zu müssen, was gerade nicht genügt, bzw. optimierungsbedürftig ist. Auf einmal wird der gemeinsame Alltag als langweilig empfunden, auf einmal ist die gemeinsame Wohnung nicht mehr als spießig und lediglich eine Hürde auf dem Weg zum erfolgreichen, unabhängigen Digitalnomaden-Dasein. Auch die neuerdings entdeckte Leidenschaft für Veganismus und Yoga muss fortan vom/von der Partner/in geteilt werden, denn schließlich will man ja nicht mit dem fleischfressenden Feind ins Bett gehen oder irritiert angeschaut werden, nur weil man den Raum mit dem Wort „Namasté“ verlässt.

Menschen verändern sich, keine Frage. Die Frage ist eher, wie viel Veränderung wir unseren Geliebt*innen in kurzer Zeit zumuten und wie kompromisslos wir dabei vorgehen. Geschieht es mal wieder aus einer Laune heraus, oder haben wir wirklich das Ziel, einen grundlegend neuen Weg zu gehen oder etwas Neuartiges auszuprobieren? Sind wir ebenso bereit Zugeständnisse einzugehen und auch unseren/r Geliebte/n auf seinem Weg zu unterstützen? Profitiert unser/e Partner/in vielleicht sogar ebenfalls von der Idee oder ist es ein einseitiges Unterfangen?

Eine einseitige Öffnung der Beziehung beispielsweise, wie ich sie gerade von den Herren der Schöpfung immer wieder vorgeträumt bekam, ist weder selbstverwirklichend noch besonders wertschätzend. Das Einzige, was hierbei geschätzt bzw. geschützt wird, ist das eigene Ego – mehr aber auch nicht! Merkt euch das.

Beide, oder besser gesagt: alle, Beziehungsteilnehmer*innen haben das Recht auf Selbstverwirklichung und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Gleiches Recht für Alle! Auch wenn das nicht immer so einfach ist, denn nicht jeder empfindet das Gleiche gleich. Im Gegenteil: Was für den einen eine Horrorvorstellung ist, kann für die andere eine erregende Fantasie sein. Wichtig ist es, auch hier Zugeständnisse zu machen. Geteiltes Leid ist nicht immer halbes Leid, sondern manchmal eben doppeltes Leid.

Zuletzt habe ich immer wieder darüber nachgedacht, ob ich nicht vielleicht auch etwas egoistisch in der Vergangenheit gehandelt habe. Ich liebe die Bewegung, ich bin nie lange an einem Ort. Ich reise viel, ich bin ständig unter Menschen, ich brauche viel Input. Nicht jeder kann/muss da mithalten, nicht jeder fühlt sich auf diese Weise inspiriert, sondern in manchen Fällen vielleicht eher terrorisiert. Verständlich. Komfortzonen gibt es in allen Größen und Formen.

Aber wäre es vielleicht in manchen Momenten gut gewesen, die eigenen Grenzen nicht ganz so vehement zu verteidigen und hier und da auch mal ein paar Zäune einzureißen? Eins ist klar, es hat mich definitiv einiges an Nähe gekostet. Egal ob auf beziehungstechnischer oder freundschaftlicher Ebene, wahrscheinlich auch auf familiärer. Eine eigene Familie ist mit 30 auch noch bei weitem nicht in Sicht, aktuell lebe ich ungebunden in Berlin und entdecke (mal wieder) eine (neue) Stadt. Neue Menschen, neue Geschichten, neue Biografien, neue Routinen, neue Orte, neue Perspektiven.

Meine Neugier ist seit längerem mal wieder konstant gestillt. Ein befriedigendes Gefühl, wäre da nicht dieses Heimweh, das jedes Mal kommt. Jedes Mal, wenn es weitergeht. Neue Stadt, neuer Job, neuer Auftrag, neue (Lebens-)Phase.

Und immer wieder diese Frage: War es richtig weiterzugehen? Bleiben die Menschen? Wieso bin ich wieder auf der Suche, wenn ich doch eigentlich zufrieden war? Bin ich undankbar? Ist es Selbstverwirklichung oder Egoismus? Ich ging in Frieden und wer weggeht, kommt auch gern mal wieder…. oder zurück. Also hat es wenig mit Egoismus zu tun, denn verletzt wurde niemand. Aber das läuft nun mal nicht immer so und einige von euch kennen es vielleicht: die Angst nie wirklich anzukommen und am Ende allein zu sein.

Ist zu viel Selbstverwirklichung schädlich? Zugegeben, somit hätte sie zumindest wirklich etwas mit Egoismus gemein, denn der ist definitiv schädlich.

Foto by Fero