Frust statt Lust – Wenn die versprochene Heilung krank macht

Gastbeitrag von anonym

Sex war für mich immer ein Fallenlassen, auf seelischer und körperlicher Ebene gleichermaßen. Ein Moment tiefster Hingabe, der es mir erlaubte, Liebe und Leidenschaft Ausdruck zu verleihen – bis zu dem Moment, als ich das erste Mal in meinem Leben dabei nicht Lust, sondern Schmerz empfand.

Nach einer bakteriellen Entzündung reagierte ich allergisch auf die verordneten Zäpfchen und es war beinahe so, als würde mein Körper diesen unsäglichen Schmerz immer und immer wieder rekapitulieren, wenn ich von nun an versuchte Sex zu haben. Ich hielt ihn monatelang aus. Weil auf der Packungsbeilage stand, dass es zu einem leichten Brennen kommen kann, und ich davon ausging, ich sei einfach nur empfindlich. Und weil mein Freund gerade weit weggezogen war und ich unsere rar gesäten Treffen nicht noch verkomplizieren wollte. Ich glaubte ja, dass das alles nur vorrübergehend war, eine lästige Nachwirkung der Allergie.

Medizinisch unauffällig, Schmerzlevel auffällig.

Nach 3 Monaten, in denen ich keinerlei Verbesserung spürte, wurde mir klar, dass ich nicht mehr schweigen konnte. So kam es, dass ich zuerst mit meinem Freund darüber sprach, der schockiert war, dass ich glaubte, eine so einschneidende Erfahrung nicht mit ihm teilen zu können; dann mit unzähligen Ärzten, die mir wortwörtlich 20 verschiedene Salben, monatelange Kortisonspritzen in die scheinbar entzündete Stelle und das Überdenken meiner Beziehung verschrieben; und schließlich mit Spezialisten verschiedener Gebiete.

Einschneidend, das war es in der Tat, denn bei jeder Penetration riss die gleiche Stelle am Scheideneingang, ich konnte es jedes Mal ganz genau fühlen. Und als ob diese Erfahrung nicht ausreichte erlebte ich die tiefsten Täler dramatischer Spekulationen über die Ursache dieses Symptoms. Von Lichen Sclerosus, einer Autoimmunerkrankung, bei der sich die Genitalien unwiederbringlich zurückbilden, bis hin zu Krebs haben mir so einige Hypothesen Panik gemacht.

Durch eine Biopsie konnten glücklicherweise all diese Vermutungen ausgeschlossen werden. Das Ergebnis war letztlich eine von den vielen Behandlungsversuchen gebeutelte, aber im Grunde kerngesunde Schleimhaut ohne Befund – und zusätzlich eine durch eine schlecht ausgeführte Probenentnahme extrem langsam abheilende Wunde an exakt der Stelle, die sowieso schon von selbst einriss.

Wie sicherlich viele vor mir kam ich an den Punkt, an dem ich nicht wusste, ob mir ein negatives Ergebnis ohne Aussicht auf Heilung mehr Erleichterung verschaffte als endlich wenigstens irgendeine Diagnose, die mir dafür immerhin einen Weg beleuchten würde, so beschwerlich vielleicht er auch sein mochte. Zweieinhalb Jahre hatten mein Freund und ich mittlerweile auf Sex verzichtet. Zweieinhalb Jahre, in denen mir nicht nur meine Hoffnung, sondern noch vielmehr mein Selbstbewusstsein und das Empfinden, mich als Frau zu fühlen, verloren gegangen war. Auch wenn ich natürlich wusste, dass Sex weder das eine noch das andere definieren und lediglich die Erweiterung, nicht aber der Pfeiler einer Beziehung zu einem Menschen sein sollte, war ich in einer schier unüberwindbaren Dunkelheit gefangen.

Wieso sollte mein Freund bei mir bleiben, wenn ich ihm den wesentlichen Teil einer Beziehung nicht geben konnte?

Das traurige daran war, dass nicht nur ich mir diese Frage stellte, sondern viele andere auch. Vielleicht ist es merkwürdig, gerade auf einem Blog über Sexualität darüber zu schreiben, wie oft man sich gewünscht hat, dass Sex weniger Bedeutung hat. Aber so war es. Meine eigene Erwartung, aber genauso die der anderen war, dass man vielleicht eine gewisse Zeit darauf verzichten kann, aber dann … ja, was dann? Wie lange ist „eine gewisse Zeit? Ehrlicherweise hätte ich nicht einmal geglaubt, dass es zweieinhalb Jahre funktioniert, ohne dass wir einander verlieren. Und dass die Risse nach den zweieinhalb Jahren ebenso selbstverständlich auftraten wie zuvor brachte den leisen Hoffnungsschimmer augenblicklich wieder zum Erlöschen.

Immer und immer wieder fragte ich mich, was ich falsch machte.

Wieso bei anderen Frauen innerhalb weniger Wochen ganze Dammrisse und andere Geburtsverletzungen wieder abheilten, während diese eine winzige Stelle mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Die Schmerzen waren zwischenzeitlich so schlimm, dass ich nicht laufen, nicht stehen, nicht einmal sitzen konnte. Die Tatsache, dass ich nur noch zauberhafte Baumwollunterwäsche und weite Hosen tragen mochte trugen nicht unbedingt dazu bei, mich schön und begehrenswert zu fühlen. Traurig, wie sehr man sich zusätzlich zu der wesentlichen Not von solchen Äußerlichkeiten abhängig macht. Für mich war es jeden einzelnen Tag wie ein Wettlauf gegen die Zeit.

Ich versuchte verzweifelt, „rechtzeitig“ gesund zu werden, bevor ich meinen Freund verlieren würde. Währenddessen bewies er mir, dass er sich seiner Freiheit bewusst ist, jederzeit gehen zu können, wie an jedem anderen Punkt einer Beziehung auch; aber dass er sich aus sehr vielen Gründen jeden Tag aufs Neue entschied, an meiner Seite zu bleiben und damit sicherlich das ein oder andere Trauma eines Scheidungskindes zu heilen vermochte. Dennoch trauerte ich immer mehr um all das, was ich verlor, inklusive mir selbst.

Nachdem ich jegliche Möglichkeiten der Medizin ergebnislos ausgeschöpft hatte, hoffte ich, mithilfe einer einfühlsamen Therapeutin die Ursache des Problems in meinem Innersten zu finden. Ich erforschte jegliche bewussten und unbewussten Erlebnisse meiner Vergangenheit und glaubte, dass ich bloß den richtigen Knopf finden brauchte, um endlich wieder ein normales (Sex-)Leben führen zu können.

Spoiler Alarm: diesen Knopf gab es natürlich nicht.

Vielmehr ging es darum, meine Einstellung zu ändern. Nicht zu erwarten, dass alles wieder so wird wie „vorher“. Nicht zu erwarten, dass ich genauso bin wie andere. Dem Schmerz Raum zu geben, ohne ihn gewinnen zu lassen. Das alles klingt sehr pathetisch und ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass es verdammt harte Arbeit war. Immer und immer wieder mit seinem Partner das Gespräch zu suchen, die aktuellen Bedürfnisse des anderen auszuloten und vor allem anzunehmen, ohne sie persönlich zu nehmen kann sehr schwierig sein. Und dennoch sind diese Gespräche notwendig, damit ich mich nicht wie eine Fessel fühle, an die sich mein Freund aus Mitleid bindet. Damit er sich gehört fühlt, denn auch ihn betrifft die ganze Situation. Damit er sicher ist, dass ich nicht mit ihm schlafe, um ihm einen Gefallen zu tun. Denn das passiert sicherlich häufiger als viele von uns zugeben würden.

Der Weg, auf dem ich mich, auf dem wir uns befinden, ist noch lange nicht zu Ende und vielleicht wird er das niemals sein. Das Wichtigste, was ich noch lernen muss, ist, dem Sex zu erlauben, so zu sein, wie er eben möglich ist, ohne dass er mir Leid zufügt. Denn Sex kann auf viele Arten stattfinden, und keine davon ist besser als die andere. Natürlich ist es hin und wieder schmerzhaft zu sehen, mit welcher Leichtigkeit und Uneingeschränktheit mein früheres Ich an Sex heranging und Andere alltäglich damit umgehen können. Und doch weiß ich jetzt, dass damit auch eine ganze Menge Druck einhergeht.

So viele Stimmen versuchen uns über die akzeptable Häufigkeit, die Umstände, die Art, das Geschlecht des Partners und noch so vieles mehr zu belehren, dass wir darüber verlernen können, uns selbst zuzuhören. So schwer es sein mag, mit dem Schmerz zu leben, ist Sex ist für mich auch aus diesem Grund zu einem Ausdruck tiefsten Verständnisses mir selbst gegenüber geworden. Zu einem Moment, in dem ich so achtsam wie kaum sonst mit meinen Bedürfnissen in Verbindung treten kann und in dem ich lernen darf, nachsichtig mit meinen eigenen Erwartungen zu sein. Und auch wenn das vielleicht nicht „der Knopf“ ist, ist es doch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu meinem ganz neuen „Selbst-Bewusstsein“ und „Selbst-Mit-Gefühl.“ - und vielleicht ja auch eine klitzekleine Inspiration für irgendjemanden von euch.

Zum Beispiel, dass Schmerz immer auch eine Chance sein kann, ungeahnte Kräfte, neue Wege und den eigenen Wert neu zu entdecken.