Überfordernde Wahlfreiheit

Eine Freiheit, die ihr manchmal Angst macht, besonders dann, wenn sie sich nichts sehnlicher wünscht, als einfach nur die Kontrolle abzugeben. Die Kontrolle in Form von Reiseplanung oder der Entscheidung, was sie zum Mittag essen oder abends im Fernsehen schauen könnte. Aber wirklich Loslassen, die Kontrolle vollends abgeben, fällt ihr schwer, das kann sie nicht, oder nur, wenn sie dicht ist. Voll mit Drogen, egal, ob vom Dealer an der Ecke oder medizinisch rein aus der Apotheke. Realitätsflucht mehr oder weniger auf Rezept, auf jeden Fall geplant. Manchmal überfordert sie diese ganze Wahlfreiheit und es nervt sie, dass viele vergessen, dass Wahlfreiheit eben auch bedeutet, sich ständig gegen etwas entscheiden zu müssen.

Wie oft sie diesen Gedanken im Kopf hat, wenn sie mal wieder im Drogerie Markt gefühlt eine Ewigkeit vor den Haarpflege-Produkten steht und daran verzweifelt eine Entscheidung zu treffen. Herkömmliches Shampoo oder Haarseife, Conditioner oder Sofort-Kur, Anti-Frizz-Creme oder Haarwachs, Haaröl oder doch besser Schaum? Am Ende kauft sie ein 2in1 Shampoo- und Duschgel in Familiengröße - ihr Ausweg aus der Wahlfreiheit, Flucht aus Überforderung. Zuhause vorm Spiegel bereut sie ihre Entscheidung sofort, ihr Haar ist kraus und widerspenstig. Widerspenstiger als sie es in ihrer rebellischen Jugend jemals hätte sein können, aber so endet es meistens, wenn sie überfordert mit der Situation krampfhaft versuchte eine logische Wahl, eine effiziente Entscheidung mit möglichst wenig Aufwand zu treffen. Sie ignoriert ihr Bauchgefühl und ist am Ende unzufrieden.

Aber was war die Alternative? Sie hat auch schon nach einer neuen Wimperntusche gesucht und ihre Auswahl am Ende völlig verzweifelt in eine Schale mit reduzierten bunten Haarbändern, die wie ein geschmackloser Strauß bunter Blüten herausragten, gesteckt und fluchtartig den Laden verlassen. Irgendwann entschied sie sich dazu, keine neuen Sachen auszuprobieren und sich eine Komfortzone für Kosmetika einzurichten. Immer nur die gleichen Produkte, erst wenn die alten Tiegel ausgekratzt und Tuben leer gedrückt sind, wagt sie den Gang in den Drogerie Markt, darauf hoffend, dass sie nicht wieder alles umgeräumt haben, um den Laden kundenfreundlicher zu gestalten. Kundenfreundlich, ja genau, was ist bitte kundenfreundlich daran, ein Mal pro Quartal die Regale auszutauschen und fortan allen Einkaufenden erklären zu müssen, dass die Zahnpasta jetzt nicht mehr neben den Fußpflegeprodukten, sondern im Eingangsbereich gleich neben den Reisegrößen zu finden ist? Mehr Gespräche, mehr direkter Kundenkontakt? Dass sich andere Menschen ebenso daran stören mussten, davon ging sie aus.

Sie hat den Produktherstellern schon ihre wechselnden Designs verziehen, auch wenn das anfänglich wirklich nicht einfach für sie war. Zwei, drei Mal hatte sie sich vergriffen, weil das altbekannte Türkis ihrer Tagescreme einem Rosé weichen musste und sie auf einmal mit einem Reinigungsgel fürs Gesicht nach Hause kam und es erst beim Auftragen bemerkte, als der seifige Schleim sich einfach nicht in ihre Poren einmassieren ließ. Sie fühlte sich betrogen und angeschmiert. Manchmal sind es bereits solche Dinge, die sie eine Wut empfinden lassen, die sie kaum kontrollieren kann. Aber sie hat über die Jahre gelernt, damit umzugehen.